Briefe aus der Bretagne (2)

Am Abend geht über dem Meer die Sonne auf. Den Tag über tristes Grau und Regen, nur dass selbst die Tristesse in diesem Landstrich strahlt: in tiefem Grün die Bäume, und die Hortensien machen dem Himmel Konkurrenz!

Noch als wir nach dem Abendbrot zum Meer gehen, ist nur ein schmaler Streifen blauen Himmels am Horizont zu sehen. Dann aber, innerhalb von Minuten, dehnt sich der Himmel in sattem Blau über uns, und die Abendsonne blendet nicht nur, sie wärmt.

Abend für Abend verschiebt sich der Höhepunkt der Flut um fast eine Stunde. (Der Reiseführer weiß: Alle 12 Stunden und 25 Minuten steigt das Meer an.) So ist der Plage de St. Guirec heute bis an die Mauern mit Wasser bedeckt, Oratorium und Granitbrocken sind trockenen Fußes nicht erreichbar. Wir entscheiden uns, die Felsen zur Bastille zu besteigen - der altbewährte, in den vergangenen Tagen in flotten Sprüngen und schnellem Lauf zurückgelegte Rundgang von Kletterfelsen zu Kletterfelsen.

Allerdings rennt Silja dieses eine Mal nicht davon, sondern lässt sich mit mir gleich unterhalb der Kapelle auf den Steinmauern nieder.

Frieden. Meine Tochter und ich im warmen, hellen Schein der vor uns untergehenden Sonne. Vereinzelt Menschen in der Bucht, am Strand, auf den Wegen am Hang. Kajakfahrer auf dem glatten Meer, Vögel, Rauschen, der klare Abendhimmel. Da sitzen wir nebeneinander und blicken auf die vom warmen Licht verwöhnte Felsenbucht.

"Papa, ich weiß, wann die Natur gemacht wurde. Im Jahr Null."

Wir beginnen ein Gespräch über die Zeit - oder besser über die Zählung der Jahre. Ich veranschauliche meiner Tocjter den Zeitverlauf von Sokrates über Jesu Geburt bis heute anhand einer Reihe von Steinchen. Ein Moment tiefster Ruhe, größten Glücks.

Durch den Sonnenscheint hüpft Silja dann die Gassen entlang zur Wohnung in der Rue de Centre. Glücklich das Kind, müde - und glücklich - der Vater.

Eine weltumspannende Sprache: die der Kinderhüpfschritte (China - Alaska - Feuerland),

lese ich tags darauf bei Peter Handke, meinem verlässlichen Begleiter auf (bisher) fast jeder Reise.