Unter mir die Straße

Über den Dächern fliegen die Stare, unten im Gehöft springt der Kater von Mauer zu Mauer. Warm ist der Januar, aus kaltem Blau der Morgenhimmel. Es regnet nicht - beste Gelegenheit also, das Fenster aufzureißen, die Ofenwärme nach dem Anheizen gegen frische Luft einzutauschen und ein bisschen im Internet zu surfen. Ich sitze auf den Fensterbrett, Laptop auf den Knien, und möchte ich die Verbindung ein wenig beschleunigen, beuge ich mich nach draußen, den Rechner möglichst weit aus dem Fenster haltend, tief unter mir die Straße.

So oder so ähnlich sah mein Surf-Verhalten vor exakt fünf Jahren aus. Noch bis in den Sommer 2007 bestand meine bevorzugte Internet-Verbindung aus der Partizipation am Dresdner Freifunk-Netz. Man musste Glück, Geduld und starke Arme haben, um auf diese Weise ins Netz zu gelangen. Pausenlos online, regelmäßig seine Accounts checken, am besten noch per Tablet PC vom Sofa aus? Undenkbar und völlig unnötig. Auch damals arbeitete ich zu nicht geringen Teilen im und mit dem Internet.

Vier Jahre sind keine Ewigkeit.

Seitdem bin ich fast ausnahmslos jedem Versprechen des WWW zumindest zu Testzwecken gefolgt. Informationsquelle Nr. 1, der Welt größtes Kaufhaus, Kommunikationskanal, Publikationsplattform... All das kann das Internet ohne Frage sein. Allerdings schafft es, wie jede andere Erfindung wohl auch, seine eigenen Zwecke, die es von da an zu erfüllen hilft. Fast ohne dass wir es merken, wird unsere Gefühlswelt, unsere Wahrnehmung, unser Denken umgekrempelt; unsere Bedürfnisse und Wünsche bleiben bestehen - aber anstatt dass sie erfüllt werden, werden einfach neue geschaffen, die sich dann die neuen virtuellen Kanäle als Erfüllungsort und -gehilfen suchen.

Das Netz ist wie eine self fullfilling prophecy: Es tut nicht, was wir erwarten. Es schafft eine Erwartungshaltung und ein Begehren, das es fortan zu bedienen und erfüllen gilt.

Facebook gibt mir mit seiner neuen Chronik die beste Möglichkeit, meine Online-Biographie nachzuverfolgen. Genau genommen handelt es sich um vier Jahre meines Lebens, in denen sich mein Umgang mit der Zeit, mein Bild von der Welt und meine sozialen Kontakte grundlegend verändert haben.

Am 26. Dezember 2007 bin ich Facebook beigetreten, allerdings stammen die ersten Aktivitäten aus dem Frühjahr 2009. 18 x „Gefällt mir“, 21 Freunde - das Jahr 2009 in Zahlen. 2010 waren es immerhin schon über 40 x „Gefällt mir“ und auch ein paar mehr Freunde. 2011 (150 x „Gefällt mir“) habe ich noch mehr Freunde auf Facebook (wieder) getroffen, u.a. meine halbe Schulklasse, um ganz zu schnell festzustellen, dass ich von den meisten eigentlich gar nicht wissen will, wie ihr Hund aussieht, als was ihr Ehemann arbeitet, und was sie so „liken“. Leere Fakten, die aus der gemeinsamen Schullaufbahn auch keine Freundschaft werden lassen und nicht mehr sind als „Kontakte“: Knotenpunkte in den weiten weiten Wolken des Netzes.

24 Stunden sind ein Tag.

Ich muss nun meinen Computer nicht mehr aus dem Fenster halten und bei Regen auch nicht auf den Zugriff zum Internet verzichten - ich würde meine Zeit wohl sinnvoller nutzen. Ich kann jederzeit, sobald die Langeweile mich angreift oder irgendwelche Fragen an die Schädelwand klopfen, nach dem potentiell Endlosen, in Wirklichkeit Ewiggleichen greifen, und nach Belieben Links folgen, Bilder durchstöbern, Musik hören und Buttons drücken. Wieviele Telefonate mit Freunden hätte ich in dieser Zeit führen können? Wieviele Geschichten hätten sich spinnen und entdecken und erzählen lassen, wo sich jetzt vor allem ein großer Haufen Information erhebt?

Nein, ich bestreite nicht, dass sich mit dem Internet und mit den sozialen Netzwerken jede Menge Möglichkeiten aufgetan haben. Auch zukünftig werden in atemberaubendem Tempo neue Möglichkeiten hinzukommen, die wir jederzeit bereitwillig testen, uns aneignen und konsumieren werden. Umso umfassender und phantastischer diese Möglichkeiten werden, umso bereitwilliger lassen wir uns allerdings die eigene Gestaltungsmacht, die eigene Entscheidungskraft aus der Hand nehmen. Am Ende siegt sowieso die Macht der Gewohnheit.

Beim Googlen verschwinden die Fragen zu schnell aus dem Leben, hat Angela Krauß letztens geschrieben.  Es ist, als wäre der Fernseher die ganze Zeit an. Man schaut nur halb hin, aber man schaut nie weg. Überversorgt und unterernährt, googlen und facebooken wir weiter rund um die Uhr. Auf ein Neues!