Wo ist Ihr Gott?

Eine Andacht zum Psalm 42

Hier können Sie diese Andacht hören.

Meine Tränen sind meine Speise Tag und Nacht,
weil man täglich zu mir sagt: "Wo ist nun dein Gott?"
(Ps. 42)

Wo ist nun dein Gott? Wann wurden Sie das zum letzten Mal gefragt? Die Theologin Christiane Tietz stellt in einem Vortrag zur Gottesfrage heute Desinteresse und Gleichgültigkeit fest: Religion? Ist ein Lebensbereich unter anderen, die Kirche ein Haus unter vielen. Mancher geht rein, viele gehen dran vorbei. Vorbei die Zeiten, wo man sich gegenseitig – Kirchentreue und Kirchenferne – argwöhnisch beäugt, gar miteinander streitet. Stattdessen wohlwollendes Schweigen und Wegsehen. Der eine glaubt an Gott, der andere an sich selbst, der nächste chantet im Yoga-Studio Mantren und findet im Körper, was andere im Geist suchen.

Das Christentum hat seine Selbstverständlichkeit verloren. Es ist zu einer Option unter vielen geworden, zu glauben ist so legitim wie nicht zu glauben. Da gilt es, sprachmächtig zu werden. Zu erzählen von dem, was mich bewegt, antreibt, tröstet. Zeugnis von der frohen Botschaft abzulegen – im eigenen Leben, in der eigenen, authentischen Sprache, mit eigenen Worten.

Wo ist nun dein Gott? Eine Frage, die eine spannende Einladung zum Gespräch sein kann.

Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott, zu dir.

So beginnt der Psalm: Sehnsucht nach Gott. Wo Luther von "Seele" spricht, steht im Hebräischen das Wort nefesh: Kehle. Hier geht es nicht nur um ein geistiges Bedürfnis. Es geht um etwas ganz Existenzielles: Hunger, Durst und vor allem der Atem schwingen hier mit. Im Begriff der nefesh wird die Lebenskraft des Menschen in ein Bild gebracht. Die Kehle, die nach Wasser dürstet, das Vogeljunge, das den Schnabel aufsperrt. Das Kind, das den ersten Atemzug macht und dann nicht aufhört zu atmen, bis zum letzten Atemzug. "So schreit meine Seele, Gott, zu dir."

Der Mensch als lebendiges Bedürfnis: so tief, so grundlegend, dass wir es kaum bewusst wahrnehmen. Wie wir unsere Existenz etwas, jemand Anderem verdanken. Dass da etwas ist, tief in uns und unserer Verfügbarkeit doch entzogen. Ein Lebensgrundstoff, der vor uns war und um uns ist. Unser Grund, unser Ziel, unsere Freude, unsere Angst.

Der Mensch als lebendiges Bedürfnis, als kraftvolle Sehnsucht. Der christliche Glaube hat viele Bilder für etwas gefunden, das kaum zu beschreiben ist. Ich glaube, diese Sehnsucht, von der hier die Rede ist, kennen viele Menschen.

Ich schreibe diese Zeilen im Haus Hoheneichen, einem in der Nähe von Dresden gelegenen Exerzitienhaus der Jesuiten. Ich bin hier regelmäßig zu Gast – nicht zu Exerzitien sondern zu Zen-Sesshins. Zu was?

3 Tage in der Stille und in Gemeinschaft, um Zazen zu praktizieren, die jahrtausendealte Meditationsform des Zen-Buddhismus. Schweigen. Sitzen. Atmen. In der Stille zu sich kommen. Wahrnehmen, dass da etwas Größeres, Umfassenderes, Kaum Nennbares ist, von dem man nicht wissen, auf das man aber vertrauen kann. Manche nennen es Gott.

"Wo ist denn nun dein Gott?" Der Frage sollte man sich nicht nur stellen können, wenn man an Gott glaubt und gefragt wird – aus Interesse, Angriffslust oder Unverständnis. Nein: Warum als Glaubender diese Frage nicht selbst auf den Lippen haben: Wo ist dein Gott? Wo ist dein Gott? Womit lebst du, womit stirbst du, worauf baust du, was suchst du? Voller Interesse, ganz unorthodox und ohne Anspruch, es besser zu wissen. Ich bin mir sicher, wir hätten einander einiges zu erzählen.

Erstveröffentlicht am 05. Juni 2020 auf www.pauluskirche-zwickau.de.