Heilige Wut

Meine Revolution beginnt damit, dass ich mich unterordne,

schreibt Thomas Quartier in seinen Aufzeichnungen über das Leben als Mönch. So wie Frank Berzbach in seiner Kunst ein kreatives Leben zu führen in der Benediktsregel fündig wurde, ist die 1500 Jahre alte Benediktsregel im Denken des Benediktermönchs Quartier ein unhintergehbarer Grundstein. "Vielleicht hat die Idee der Demut etwas sehr Entlastendes", vermutet Berzbach im Hinblick auf die Kreativarbeiter in Werbung und Kunst – grundlegender klingt das bei Quartier. Die Demut bildet im Denken und Tun des Mönchs den alles verbindenden Rahmen, den Horizont, der "heiligt" – der Tätigkeiten und Emotionen an ein Größeres, Umfassendes rückbindet und auf diese Weise als Quelle von Sinn und Kraft erscheint:

Radikal Mönch zu sein, heißt in erster Linie, demütig zu leben.

Kloster Neuzelle

Auf unserer Fahrradtour auf dem Oder-Neiße-Radweg kamen wir an einem verregneten Sommertag in dem verschlafenen brandenburgischen Städtchen Neuzelle an. Das für diese an Mysterien und Überraschungen eher arme Landschaft untypische Kraftzentrum des Ortes ist durch den Regenvorhang kaum zu erahnen: die gut erhaltene Klosteranlage, deren Größe und Schönheit dem weiten leeren Himmel über Brandenburg ein leises, aber trotziges Dennoch entgegenzuhalten scheint. Der Prunk in der barocken katholischen Stiftskirche ebenso wie die prächtigen Gemälde in der evangelischen Kirche quer über den Platz künden von Gottes Wort dort, wo – so sagt man – keiner mehr hinhört. Mönche gab es hier seit 200 Jahren nicht – bis sie diesen Sommer zurückkehrten.

Himmlisches Theater im Kloster Neuzelle

All der Prunk, all die Größe, die Zeugnisse der Kunstgeschichte ließen mich überraschend kalt; indes sorgte ein Moment für Verstörung: die ca. 12minütige Sext zur Mittagszeit, die auch ohne die Anwesenheit einer Handvoll Touristen stattgefunden hätte. Die kleine Gruppe von Mönchen eilte hierzu auf die Empore der Stiftskirche, jeder aufgebrochen von seiner Tätigkeit, zu der er nach der kurzen Unterbrechung vermutlich auch zurückkehren würde. Wie durch eine Pforte in der Zeit schlüpften die Betenden in ein anderes Zeitmaß, das keinen menschlichen Regeln mehr zu gehorchen schien, und begannen singend zu beten – adressiert nicht an uns, die zufällig erschienen Zuhörer, und auf merkwürdige Weise allen Zwecken enthoben, die wir mit unseren Handlungen in der Regel verbinden.

Verstörungen

Verstörungen sind ein zentrales Thema bei Thomas Quartier, der in Heilige Wut seinen Weg ins und den Alltag im Kloster beschreibt.

Oft genug war ich in den letzten Jahren verstört, musste immer wieder lernen, die Stille und den Raum des Klosters zu ertragen. ... Ich glaube, dass man Verstörungen in seinem Leben suchen und daran wachsen muss.

Quartier ist dabei nicht an klösterlichen Lebensweisheiten interessiert, ein Ratgeber möchte sein Buch nicht sein. Vielmehr trägt es über weite Teile den Charakter einer Selbstverständigung, eines Zeugnisses von der Bedeutung der klösterlichen Tradition. Entlang der oben erwähnten Regel des Benedikt von Nursia, aber mit mit Ausflügen bis hin zu Konstantin Wecker und Bob Dylan vermisst Quartier den Rahmen, den das Kloster bildet, an dem sich abarbeitend ein Mönch wächst, um (vielleicht) Bereiche des Lebens zu erreichen, von denen er gar nicht weiß, dass es sie gibt.

Das Kloster ist laut Quartier nur ein möglicher Rahmen für ein konsequentes, engagiertes Leben. Engagiert? Ja: denn schon bei Benedikt von Nursia gäbe es keinen Gegensatz zwischen Aktion und Kontemplation.

Spiritualität

Die enge klösterliche Struktur, die Orientierung an einem fremden Willen, das Absehen vom Eigenen stellen den Mönch, so Quartier, tagtäglich vor Herausforderungen, die wie ein Brennglas die Energie bündeln und ausrichten und eben: die persönliche Wut "heiligen".

Das Kaleidoskop unserer heutigen Existenz braucht einen Humus, auf dem wir gedeihen und durch den wir verschiedene Teile unserer Persönlichkeit sichtbar machen können,

zeigt sich Quartier überzeugt. Ob "Dienst an Gott" oder "Dienst am Menschen" (so einzelne Kapitel) – immer gibt es im Klosterleben einen spirituellen Grundton, an dem sich der Dienende aus- und aufrichtet, eine Struktur, die als Reibefläche und Anker zugleich fungiert. Diese Mitte ist für die Mönche weder selbstverständlich noch unangefochten, doch sie ist eben jene Wurzel, an die der Mönch (radikal!) zurückgeht, an die er sich hält.

Gastfreundschaft

Was das für die Welt jenseits des Kloster bedeuten kann, wird für mich am eindrücklichsten anhand der radikalen Gastfreundschaft deutlich, die Quartier beschreibt. Das Kloster ist – wiederum schon seit Benedikt – der Ort der Willkommenskultur. Mit einem "Deo gratias" wird hier jeder Gast willkommen geheißen. Der Dank und das Gebet sind die Grundlage für jede, noch so kurzzeitige Gemeinschaft.

Und hinter dem Gebet, wie es hier verstanden wird, verbirgt sich ein Schlüssel für die Lösung so mancher Konflikte. Denn das Gebet äußert sich laut Quartier in einem Blick nach oben, führt hinaus aus der Situation, hinaus aus der Konfrontation, öffnet den Blick hin auf ein Anderes, Drittes. So öffnet sich der Raum – vielleicht gerade auch bei erhitzten Auseinandersetzungen – hin auf ein mögliches Ganzes, in dem die gegensätzlichen Positionen wenn nicht vereint, dann doch aufgehoben sind. Ein Rezept auch für so manche Konfrontation im Alltag?

Spiritualität als Arbeit

Ich kämpfe für einen Raum, in dem die Gesetze der Dorfpolizei nicht gelten, sondern die Offenheit derer, die darauf vertrauen, dass Menschen es gut miteinander meinen.

Quartier beschreibt die Existenz im Kloster als harte, aber vertrauensvolle Arbeit, als eine Herausforderung, die nie zur Ruhe kommt. Er sucht in den Verstörungen des Alltags die Möglichkeit zu wachsen und in den Widerständen und Kontrapunkten geistigen Lebens das Bewusstsein der eigenen Grenzen. Mit den gängigen Bildern von Mönchen hat das wenig zu tun. Mit einfachen spirituellen Lebensweisheiten auch nicht. Umso mehr aber führt dieses Denken mitten hinein in unsere komplexe und konfiktbeladene Gegenwart.

The spiritual life is a life in which we wait, actively present to the moment, expecting that new things will happen to us, new things that are far beyond our own imagination or predictives. That, indeed, is a very radical stance toward life in a world preoccupied with control.
(quelle: Henri Nouwen)

Thomas Quartier: Heilige Wut. Mönch sein heißt radikal sein. Herder Verlag 2018