Die Ordnung des Himmels

Eine der aus meiner Sicht wichtigen Aspekte religiöser Praxis ist die Rückbindung des eigenen Seins an eine Tradition, die Stiftung eines Zusammenhangs der vielen Geschichten Einzelner in einer sich langsam gewachsenen und wachsenden Geschichte. Dabei bewegt man sich in der Regel allerdings im Horizont der jeweiligen Gemeinschaft oder – in vielen Formen der Spiritualität heutzutage – gar nahezu geschichtsvergessen im Selbstbedienungsladen der beliebig kombinierbaren Glaubenansgebote, Motto: Gut ist, was mir (gerade) passt. Ein Blick über den eigenen Tellerrand mag da für Verwunderung und Erhellung sorgen.

Geschichte der Religionen von der Steinzeit bis heute

Bernhard Maier, Professor für Allgemeine Religionswissenschaft und Europäische Religionsgeschichte an der Universität Tübingen, lädt mit seiner "Geschichte der Religionen von der Steinzeit bis heute" allerdings zu mehr als nur einem Blick über den Tellerrand ein; er ermöglicht auf knapp 500 Seiten einen Blick auf den ganzen gedeckten Tisch menschlicher Religiosität. Die Ordnung des Himmels möchte nicht mehr und nicht weniger sein als eine Gesamtdarstellung der Religionsgeschichte.

Maier spannt den ganz großen Bogen über nahezu 100 000 Jahre, wobei er die gesamte Welt im Blick zu behalten versucht und neben allen Weltreligionen auch kleinere religiöse Strömungen und Phänomene thematisiert. Dass dieses Unterfangen nur mit einer strengen Selbstbeschränkung glücken kann, ist dem Autor bewusst: ausgewogen und mit dem Ziel größtmöglicher Objektivität reist er durch die Geschichte der Religionen, ohne irgendwo länger zu verweilen. Wer die Innenperspektive, sozusagen den Geschmack der Speisen auf den jeweiligen Tellern sucht, wird hier kaum fündig; wer sich für Zusammenhänge, Entwicklungen und wichtige Ereignisse und Fakten interessiert, für den bietet dieser dicht geschriebene, voll gepackte Band eine in ihrem Detailreichtum kaum zu ermessende Festtafel. Und natürlich: Anregungen und Wegweiser ohne Ende.

Wie gelingt Bernhard Maier dieses Mammut-Vorhaben?

Maier teilt seine Religionsgeschichte in fünf Phasen ein, in denen er dann jeweils verschiedene thematische Blöcke schafft, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der verschiedenen Religionen in den Blick zu bekommen.

So gilt sein Interesse im ersten Teil, "Von den Anfängen bis zum Ende der altorientalischen Großreiche", den Formen und Phänomenen frühgeschichtlicher Religionsausübung. Bestattungsriten, Göttterbilder, Opfer und Tempel in den unterschiedlichen Kulturen werden erörtert und zu gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen in Bezug gesetzt.

Aus diesen frühen, grundlegenden Formen entwickeln sich, so der Schwerpunkt im zweiten Teil, "Vom Hellenismus bis zum Aufstieg des Islams", die großen Weltreligionen. Erhellend sind die Beschreibungen der Verbindungen und wechselseitigen Beeinflussung zwischen den einzelnen Religionen. Während jede Religion ihre Heiligen Schriften entwickelt (wobei deren Bedeutung von Religion zu Religion stark variiert), entsteht gleichzeitig eine große Vielfalt religiöser Strömungen und Schulen – nicht selten wiederum aufgrund kultureller und politischer Gegebenheiten.

Dass keine Religion ohne politischen Kontext gedacht werden kann, zeigt sich vollends im Dritten Teil, den Maier "Europa und Asien im Zeichen der Weltreligionen" widmet. Die Ausbreitung des Christentums und des Islams findet in starker Wechselwirkung mit politischen Herrschern und historischen Allianzen statt. Mit der wachsenden Verbreitung kommen auch neue Entwicklungen in den Blick, die Maier im Religionsvergleich betracht – so etwa Ausdrucksformen der Frömmigkeit im Alltag oder mystische Bewegungen.

Die Ordnung der Welt

Willigis Jäger prägte in seinen Bemühungen um eine konfessionsübergreifende Spiritualität das Bild der unterschiedlichen Wege, die jede Religion sucht, um auf den einen (gleichen) Berggipfel zu gelangen. Damit stiftet er allerdings eine verallgemeinernde Einheit, die der Vielfalt und den Eigenheiten religiöser Formen kaum gewachsen ist. Religion ist, das führt Bernhard Maier immer wieder vor Augen, der jeweils individuelle Versuch des Menschen, sich in Beziehung zur "Ordnung des Himmels" zu setzen – unter je spezifischen Bedingungen.

"Von der Entdeckung Amerikas bis zum Ende des Zeitalters der Aufklärung" und "Vom Beginn der Industrialisierung bis zur Gegenwart" lauten die letzten beiden Teile in Maiers Buch. Erzählt wird eine Geschichte der Globalisierung von Religion, wodurch sich Gewissheiten auflösen und neue Fragen aufgeworfen werden. In dem Maße, wie die Weltreligionen sich über alle Erdteile ausbreiten, wird ihre Bindungskraft schwächer, werden Kritiker lauter und Reformbewegungen innerhalb wie außerhalb der tradierten Religionen aktiv.

Maiers Geschichte der Religionen führt bis in die jüngste Gegenwart. Dem Pluralismus von Glaubensangeboten stehen religiöse Gleichgültigkeit, fundamentalistische Strömungen und religiös begründeter Extremismus gegenüber. Wie sehr diese aktuellen Phänomene in zurückliegenden Jahrhunderten wurzeln – dies in groben, kenntnisreichen Zügen aufzuzeigen, ist nur ein Verdienst dieses Buches.

Dabei verzichtet Bernhard Maier auf steile Thesen und zugespitzte Schlussfolgerungen, was seine Religionsgeschichte wohltuend von anderen Sachbüchern unterscheidet. (So konnte ich etwa Yuval Noah Hararis stark interpretierender Kurzer Geschichte der Menschheit nur wenig und vor allem kaum wirkliche Erkentnisse abgewinnen.) Maier konzentriert sich auf Fakten und nachweisbare Quellen, ohne diese über die Maßen zu interpretieren, und verweist eher auf die Grenzen des Belegbaren und zu Wissenden.

Eine Schlussfolgerung aber lässt sich bei der Lektüre von Die Ordnung des Himmels dennoch ziehen. Durch die Geschichte hindurch spiegeln alle Bemühungen, sich ein Bild des "Himmels" zu machen, die jeweilige Verfasstheit der Welt. Eine "Ordnung des Himmels" wird nun einmal auf Erden versucht, entworfen, beschrieben. Auf dem eigenen Teller findet sich daher immer nur ein kleiner Ausschnitt eines überbordenden, kaum zu fassenden Gemäldes. Dass wir, jeder Einzelne, Teil dieser durchaus chaotisch anmutenden Ordnung sind, dafür können Religionen ein Bewusstsein schaffen. Ein Blick über den Tellerrand kann dafür sorgen, dass die eigene Speise danach umso besser mundet.

Bernhard Maier: Die Ordnung des Himmels. Eine Geschichte der Religionen von der Steinzeit bis heute. C.H.Beck 2018