Russische Spezialitäten

Es ist eine merkwürdige Lektüre voller Überraschungen und ungeahnter Abgründe, dieser Roman von Dimitrij Kapitelman. Im ersten Teil schildert Kapitelman, 1986 in Kyjiw geboren, wie sein Ich-Erzähler seit den 1990ern in Deutschland lebend, eine, man möchte sagen, ziemlich russische Familiengeschichte. Dauerbeschallt von russischem Fernsehen verkauft eine jüdische Familie aus der Ukraine in einem Stadtteil von Leipzig Russische Spezialitäten. Der Laden trägt, natürlich, einen russischen Namen (магазин) und verkauft Wodka, Pelmeni, Kaviar, SIM-Karten – das wenigste davon aus Russland.

“магазин, weil dieses Wort für Lebensmittelladen den lange zwangsberussten Leuten aus der DDR noch ein Begriff sei.“

Zwangsberusst: da schimmert er durch, der ungeheure Wortwitz des Herrn Kapitelman. Mit Wortneuschöpfungen und Wortspielen kapitelt sich der Autor durch 20 Jahre wild improvisierte, um nicht zu sagen, durchgerusste Familien- und Geschäftsgeschichte, die auch eine Feier sozialistischer Widerstandsfähigkeit inmitten des Kapitalismus ist: Widerstände werden einfach weggerusst. Oder ignoriert. Oder umschifft. Oder ausgesessen, bis sie sich von allein erledigt haben. Erfindungsreich, einsatzbereit und von rus-seliger Zuversicht geprägt: die Familie des Ich-Erzählers geht in Leipzig-Großzschocher unbeirrt ihren Weg. Dann kommt Corona. Und der Ukraine-Krieg.

Dimitrij Kapitelman: Russische Spezialitäten. Hanser 2025

Das russische Fernsehen dröhnt nun noch lauter, und die Mutter glaubt fest an das, was im Fernsehen und im Internet erzählt wird: „In der russischen Welt meiner Mutter ist Russland gut und heldenhaft und hat gar keine andere Wahl als zu kämpfen.“ Und so geht ein Graben durch die von der Zeit sowieso gebeutelte Familie, den der Sohn immer schwer auszuhalten vermag. Immerhin, manchmal gelingt es noch: „Ein paar Fernsehwunder lang können wir ganz friedlich russisch miteinander sein.“

“’Die Ukraine muss endlich verstehen, dass die Welt sich nicht nur um sie dreht!’ Die grausamsten Sätze sind immer die saloppen. Und ich höre sie, wenn ich bei meinen meistgeliebten Menschen bin, meiner Familie. Wo ich doch am sichersten sein sollte.“

In Deutschland wird es kälter, in Sachsen sind die Rechten auf dem Vormarsch, und die Mehrheitsverhältnisse im neuen, im September 2024 gewählten Landtag verheißen nichts Gutes. Das магазин ist geschlossen, der Vater kämpft mit den Folgen eines Schlaganfalls und die Mutter hängt am Tropf russischer Propaganda. Die Welt von einst, die „ukrainisch-moldawisch-jüdisch-russische“ ist untergegangen? Da bleibt nur eins: eine Reise in die Ukraine.

Wie Kapitelman im zweiten Teil seines Romans über sein Heimatland nach drei Kriegsjahren schreibt, ist beklemmend – gerade im Kontrast zu dieser fröhlich-chaotischen Familiengeschichte mit den traurigen Untertönen im ersten Teil. Leerstehende Kaufhäuser, Bombenalarm in der Fußgängerunterführung, verwaiste Hotspots und ein verwundetes, vernarbtes Land: schonungslos, realistisch und sehr persönlich ist dieser Reisebericht. Und voller Herzlichkeit in den Begegnungen mit den Menschen, die in Kyjiw und Umgebung weiterhin versuchen, ihr Leben zu führen. Als Kapitelmans Erzähler nach Leipzig zurückkehrt, sind die Brüche nicht kleiner geworden. Doch sie können nichts ausrichten gegen die irrsinnige Verbundenheit in dieser Familie, die als Spielball in einer verrückt gewordenen Welt zusammenzuhalten versucht.