Der Gott des Waldes

Wald, Seen, Berge. Die Adirondack Mountains im amerikanischen Bundesstaat New York. In dieser abgeschiedenen Gegend verschwinden mit dem Abstand von 14 Jahren zwei Kinder einer reichen Familie. Bear, der vierte Peter in der Familiendynastie der van Laars, verschwindet im Sommer 1961 spurlos – ein vermeintlicher Täter ist schnell gefunden und stirbt im Lauf der Vernehmung. Als an einem Sommermorgen 1975 Bears Schwester Barbara vermisst wird, wird schnell deutlich, dass hier irgendetwas gar nicht stimmt.

Liz Moore siedelt ihren Thriller Der Gott des Waldes in einer malerischen Wildnis an: „Selbst ein erfahrener Ranger könnte sich in den Adirondacks verlaufen.“ Es ist eine Gegend, in der wenige Menschen leben. Man kennt sich. Und ahnt vielleicht etwas von den menschlichen Abgründen, die in den Wäldern versteckt gehalten werden. So wie bei der Familie van Laar.

Seit der erste Peter (Peter I.) hier gesiedelt hat, hat die mit Bank-Geschäften reich gewordene Familie mit dem Haus „Self-Reliance“ ein Refugium geschaffen, in das sie regelmäßig Kunden, Künstler und Freunde aus den großen Städten einlädt. Doch von Peter zu Peter werden auch Geheimnisse weitergegeben, über die man besser nicht spricht – ebenso wie das ungeliebte Sommerferien-Camp inmitten des familieneigenen Naturreservats, das jeden Sommer zahlreiche Kinder empfängt.

Liz Moore: Der Gott des Waldes. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz. C.H.Beck 2025
Liz Moore: Der Gott des Waldes. Aus dem Englischen von Cornelius Hartz. C.H.Beck 2025

Die Familie van Laar steht im Mittelpunkt der beiden Ermittlungen, über die aus verschiedensten Figurenperspektiven und in immer wieder wechselnden Zeitebenen erzählt wird. Da ist etwa Alice, die Peter van Laar sehr jung geheiratet und seit dem Verschwinden ihres Sohns nicht wieder ins Leben zurückgefunden hat. Ihre nun verschwundene Tochter Barbara hatte, das zeigt sich recht schnell, ein angespanntes Verhältnis zu ihren Eltern und geistert als früher Punk durch die Geschichte. Neben ihrer Sommerbekanntschaft Tracy ist da etwa die Betreuerin Louise, die mit ihren eigenen Familienverhältnissen kämpft und bald ins Visier der Ermittler gerät. Da ist T.J. Hewitt, die abweisend wirkende Leiterin des Sommercamps, und ihr Vater Victor, der sein Leben im Naturreservat verbracht hat. Und da ist die ungemein starke Ermittlerin Judyta, die bald merkt, welch unbequeme Fragen sie stellt.

Zwischen den (vermeintlich) blühenden 1950ern mit ihren (vermeintlich) intakten Familien und den krisengeschüttelten, verunsichernden 1970ern erzählt Moore weit mehr als einen Kriminalfall. Der Gott des Waldes steckt voller Zeitkolorit und Gesellschaftskritik, schildert eine Familiengeschichte voller Geheimnisse und Spannungen - und ist nebenbei von gnadenloser Spannung und erzählerischer Raffinesse geprägt. Puzzleteil für Puzzleteil springt die Autorin durch die Zeiten – und sie nimmt sich sehr viel Zeit (600 Seiten), um die Fährten zu legen, die durch die Wildnis hin zur Auflösung führen.

Der Kriminalfall ist dabei nur das Zentrum: Moore interessiert sich für die Frage, welche sozialen Kosten ein selbstbestimmtes Leben verursacht, noch dazu für Frauen in einer von Männern dominierten Gesellschaft – und was passiert, wenn sich eine Frau über die ihr gesetzten Grenzen hinwegsetzen möchte. Der Name des von der Familie bewohnten Hauses – „Self-Reliance“ – Eigenständigkeit – verweist mit ganzer Absicht auf de Lyriker Ralph Waldo Emerson, der gemeinsam mit Henry David Thoreau durch diese düsteren, wilden Wälder geistert.

Stephen King sagte über Der Gott des Waldes: „Von Anfang ist es schwer, diesen langen Roman aus der Hand zu legen. Ab Seite 200 – unmöglich.“ Am Ende des Buches mit all diesen faszinierenden Figuren wünschte ich mir weitere 600 Seiten.