Dein Name

Aus der Sicht des Menschen sind wir nirgends so sehr Individuen wie im Augenblick des Todes: Ein Ich stirbt.

Durch Zufall stößt der Romanschreiber in Navid Kermanis Roman Dein Name auf Jean Paul, nach dem er - der Romanschreiber - schnell so süchtig wird wie der Schreiber dieser Zeilen nach dem 1229 Seiten umfassenden, vom Verleger "Riesenknödel" getauften Koloss. Um es auf den Punkt zu bringen: ein solches Buch habe ich noch nicht gelesen.

Navid Kermani beginnt am Donnerstag, dem 8. Juni 2006, mit einem Werk, das "kein Tagebuch" sein soll, aber unter Hand zum Journal der nächsten fünf Jahre gerät: "Für wen auch immer will Navid Kermani festhalten, was auf Erden geschieht." Im Fokus: die Grenzen unserer Existenz, Geburt und Tod. Die Datei auf dem Rechner heißt zunächst Totenbuch, der Roman trägt lange den Arbeitstitel In Frieden, bevor der Verleger - so zumindest die Version des Romanschreibers - den Titel Dein Name vorschlägt. Das Projekt hat das Ziel, "Gedächtnisse" zu versammeln: Navid Kermani will Nachrufe auf Gestorbene versammeln.

Wie Gott es verbietet, Seinen Namen auszusprechen, müssen die Vergänglichen beim Namen gerufen werden, um ihre Vernichtung noch ein, zwei weitere Generationen hinauszuzögern. ... Der Name ist das mindeste, die Voraussetzung, überhaupt erinnert zu werden.

Der Plan und die Wirklichkeit

Das ist der Plan. Auftritt: die Wirklichkeit. Während im Buch die ersten Toten beim Namen genannt werden - und praktisch nur sie - regiert der Zufall, der Alltag und die Lektüre. Der große Außenseiter der deutschen Literatur, Jean Paul, hat seinen Auftritt im Roman als Stütze für den Schreibtisch des Romanschreibers (was für ein Bild!), und dieser stöhnt sogleich: "Nicht noch ein Hölderlin." Hat er sich zuvor an Friedrich Hölderlin - dem "Sufi der deutschen Literatur" - abgearbeitet, erweist sich Jean Paul als dessen Antipode; fortan befindet sich Kermani im Zwiegespräch mit beiden Autoren.

In einem Roman ist es unwahrscheinlich, daß sich auf Seite 200 etwas Gravierendes ereignet, was weder vorher noch nachher irgendeine Bedeutung hat. Im Leben geschieht das andauernd,

konstatiert der Romanschreiber mit Bezug auf Jean Paul. So verliert der Navid Kermani im Buch die Kontrolle über sein Projekt; während dem Autor Navid Kermani durch den Einbruch der Wirklichkeit in die Konstruktion ein grandioses Buch, überbordend von Geschichte und Geschichten, von Reflexionen und Analysen, von Mitgefühl und Witz gelingt. Nicht nur ein Totenbuch, sondern ein Buch des Lebens. Ein Roman aus dem, "was jeder andere durchgestrichen hätte".

Das Rückgrat bildet die Selberlebensbeschreibung des Großvaters, die eine Brücke schlägt von der traditionellen, vormodernen Kultur im Iran des ausgehenden 19. Jahrhunderts über die Wirrungen einer - im Dickicht der internationalen Politik - erzwungenen, immer wieder umkämpften, als Gewalt erfahrenen Modernisierung bis hin zu den Ursprüngen der heutigen Probleme. Der Enkelsohn liest, übersetzt, kommentiert die Geschichte des aus Isfahan stammenden Jungen, der in Teheran an der Amerikanischen Schule lernt, eine irrwitzige Karriere hinlegt und immer wieder zwischen die Fronten der politischen und religiösen Kräfte im Iran gerät. Hier nimmt eine Geschichte ihren Anfang, die ins protestantisch geprägte Siegen führt und den Enkelsohn als Vertreter "des Islams" in Talkrunden und ins Büro der Bundeskanzlerin bringt.

Wie auch in anderen Werken Kermanis ist diese Ebene von zündender Relevanz. So verworren sich die Geschichte des Islam im 20. Jahrhundert auch nach der Lektüre darstellt: Man ahnt etwas von der großen Tragik der Geschichte und der Komplexität der über die Jahrzehnte (Jahrhunderte) angehäuften Probleme zwischen sich aufgeklärt gebendem, aber vielerorts nur aus Machtkalkül handelnden Westen und als Spielball misshandeltem, zerrissenem Orient. Als Berichterstatter reist Kermani in diesem Buch nach Afghanistan, nach Lampedusa, nach Ägypten oder nach Pakistan. Angesichts des dort Geschilderten ahnt der Leser: das Problem liegt nicht darin, dass die Wirklichkeit in die Fiktion einbricht - sondern darin, dass wir die Fiktion auf geradezu gefährliche Weise für die Wirklichkeit halten.

So schließt sich der Kreis. Das Totenbuch des Navid Kermani erinnert an unsere Begrenztheit, die wir im Alltag ausblenden, wie an Widersprüche unserer westlichen Wertegemeinschaft. In der Würdigung und im Dialog mit den Toten (Autoren, Wissenschaftlern, Freunden, engsten Verwandten) verweist er auf die Grenzen des Individuums, hinter denen sich das Unfassbare unserer Existenz ereignet. "Am einzelnen Sterben prallt alle Fügung ab, alle Kunstfertigkeit und alle Vision." Erschreckend, aufrührend und voller Hingabe erzählt Navid Kermani davon,

wie die Wirklichkeit einfach ausgeknipst werden kann und man dadurch erst ihre Helligkeit begreift.

Navid Kermani: Dein Name. Hanser 2011