Reisen (1): Navid Kermani - Entlang den Gräben

Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen. Dieser Spruch von Matthias Claudius hat es mittlerweile zum geflügelten Wort gebracht. Reisetagebücher und Reiseberichte sind spätestens seit der Aufklärung eine beliebte, weil unterhaltsame und bildende Lektüre. Erzählungen von einer Reise sind gerade auch für den Daheimgebliebenen ein im Idealfall kurzweiliger Weg, ein wenig von der Welt kennenzulernen, ohne sich die Füße schmutzig zu machen.

Navid Kermani gelingt mit seinem 54 Tage umfassenden Reisetagebuch Entlang den Gräben ein Meilenstein in dieser an Meilensteinen sicherlich nicht armen Erzähltradition. Warum? Weil er mit seiner Reise, die von Deutschland durch Osteuropa bis ins iranische Isfahan führt, so viel an Welt zwischen zwei Buchdeckel packt, dass man auf dem heimischen Sofa fast mehr über die Welt östlich der Oder lernt, als wenn man selbst aufgebrochen wäre.

Das liegt vor allem daran, wie wach und offen Kermani den Menschen auf seiner Reise begegnet; wie unvoreingenommen und mit welchem leidenschaftlichen Interesse er Station für Station erkundet; und wie trotz oder gerade wegen aller Unvoreingenommenheit immer die Empathie, die Teilhabe, das Mitgefühl seinen Blick prägt. Das färbt dann zurück auf den Leser, der – um im Bild zu bleiben – sich vielleicht nicht die Füße schmutzig macht, aber während der Lektüre immer wieder den Kopf gewaschen bekommt.

Der unentdeckte Kontinent

Ähnlich wie Frau Hemingway ging es mir auch: Dank meiner Schulzeit und dem ausgeprägten Russisch-Unterricht an einer sog. "Russisch-Schule" bin ich eigentlich mit einer starken "Ost-Prägung" aufgewachsen, bis hin zu einer Brieffreundin (natürlich: Olga) im heute im geographischen Niemandsland angesiedelten Lipezk (eigentlich: Ukraine).

Im ersten Teil seines Reisetagebuchs nun reist Kermani durch die Länder des ehemaligen Ostblocks. Über zwanzig Tage ist er unterwegs, um – nach einer Zwischenstation in Schwerin – Polen, Litauen, Weißrussland und die Ukraine – zu erkunden: Unendliche Weiten ... Ja: Allein die geografischen Dimensionen dieses Teils von Europa haben mich, der ich mich in Geographie eigentlich als ziemlich bewandert betrachte, förmlich erschlagen. Mittlerweile habe ich mich als Mitteleuropäer so sehr in der "West-Orientierung" eingerichtet, dass Europa, zumindest der bewussten Wahrnehmung nach, mit Polen endet. Irgendwo stößt der Kontinent dann halt an Rußland (okay, gehört ja irgendwie auch noch so halb dazu), aber dazwischen?

Dazwischen liegt, so schildert es Kermani, eine vielschichtige Welt von enormen Ausmaßen, hin- und hergerissen zwischen Orientierung gen Brüssel oder Moskau. Vor allem aber ist es eine Welt, in der der Fußabdruck der Deutschen noch immer sichtbar und fühlbar ist. Und so entdeckt man in diesem ersten Teil einen Graben, der sich, vielfach verschüttet, von den Schützengräben des 2. Weltkriegs bis in die Gegenwart, von Berlin direkt bis nach Minsk, Kiew oder gar auf die Krim zieht. Oft tut es weh, davon zu lesen, wie ganze Landschaften noch heute von Vernichtung und Verwüstung gekennzeichnet sind, wie Schicksale aus dem 2. Weltkrieg bis heute nicht bewältigt sind oder fortwirken. Die Gewalt, die die Menschen östlich der Oder erlebt haben, haben wir für uns in eine historische Form gegossen, in der sie sie als Mahnmal oder Moral und mit einer zunehmenden Distanz oft fast "fremd" gegenübersteht. Kermanis Beobachtungen in Warschau oder Auschwitz, seine Würdigung des Kniefalls von Willy Brandt oder die Schilderung des Holocausts in Litauen und der Ukraine wiederum machen einem die eigene Perspektive auf die Geschichte fremd. Welche Gewalt, welche Leiden gingen von den Deutschen aus!

Europa? Asien?

Wo verläuft eigentlich genau die Grenze zwischen Europa und Asien? Kermani streift Russland, um im zweiten Teil des Buches eine chaotisch anmutende Odyssee durch die Kaukausregion zu erleben. Hier verliere ich als Leser zuweilen komplett die Übersicht; wer streitet mit wem und warum? Es sind fremd anmutende Konflikte, die zwischen den ehemaligen Kaukasus-Republiken der UdSSR schwelen; Terror und Korruption sind hier immer noch anwesend, so wie die Region in einem Kriegszustand erstarrt ist, der mitnichten befriedet ist. Die Gräben trennen hier ehemalige Nachbarn voneinander, und sie sind weit davon entfernt, überbrückt zu werden.

Navid Kermani packt auf wenige, vielleicht 150 Buchseiten so viele Beobachtungen und Reflexionen, Gespräche mit Künstlern, Politikern oder auch Passanten, dass ein verworrenes, aber ungemein dichtes Bild dieser Region gezeichnet wird. Das sich einstellende Gefühl der Überforderung mag beabsichtigt sein, und es ist wichtig: denn die Intensität der Konflikte und die Komplexität der offenen Fragen muten für den an Frieden gewöhnten Mitteleuropäer an wie Geschichten aus einer fernen Welt und (mindestens!) einer lange vergangenen Zeit.

Kermanis Kunst ist es, verschiedensten Gesprächspartnern offen zu begegnen und diese zu Wort kommen zu lassen, ohne auf engagierte Fragen zu verzichten. Schon in Schwerin kommt er so nicht mit Flüchtlingshelfern sondern auch mit AFD-Parteigängern ins Gespräch. Eigene Beobachtungen werden in der Folge mit Reflexionen und anderen Blickwinkeln kontrastiert – ein Vorgehen, das auf eindeutige Antworten von vornherein verzichtet, der einfachen Lösung skeptisch gegenübersteht und die ergebnisoffene Frage bevorzugt. Hinzu kommt die leidenschaftliche Erzählkunst Kermanis, der nie unbeteiligt wirkt, nie ins Abstrakte abgleitet, sondern konkret, mitreißend und vielschichtig das Erlebte festzuhalten weiß. Großen Raum nehmen dabei die Geschichten derer ein, die Kermani auf seinem Weg begleiten; und so gerät Entlang den Gräben auch zu einem unerschöpflichen Fundus von Geschichten und Einzelschicksalen.

Heimkehr

Hier spielt sicherlich Kermanis eigene Herkunft eine Rolle, die im wiederum überraschenden dritten Teil des Buches ganz zum Tragen kommt. Denn Kermani reist, anders als manch europäischer Reisender, nicht einem ihm unbekannten Sehnsuchtsort entgegen, sondern kehrt am Ende in die eigene Heimat zurück.

Wie schon in Dein Name schildert er die komplexe Geschichte des Irans und die komplexen Konflikte zwischen Politik und Religion, zwischen dem "Westen" und dem Orient am Beispiel der eigenen Familie und der eigenen Freunde. Auch hier wieder entsteht ein Bild, das sich der schnellen Antwort und der einfachen Lösung entzieht. Am Ende von Kermanis Reise steht eine fast verlorene Heimat, eine Geschichte vom Zerfall und vom Verlust, die eindrücklich die Janusköpfigkeit der in Europa so hoch geschätzten Moderne vor Augen führt. Denn das Land seiner Großeltern ist nicht mehr; es ist nur noch als Schatten und als Ahnung erfahrbar. Kermani idealisiert dabei keineswegs die Vergangenheit. Er erzählt von einem Graben, der zwischen Vergangenheit und Gegenwart verläuft und dem naiven Fortschrittsdenken mit dem Zerfall von Traditionen und Werten eine Falle stellt.

Entlang den Gräben: so viel Welt zwischen zwei Buchdeckeln ist wahrlich selten.