Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen

Mein Leben wäre ein anderes ohne die Bücher von Navid Kermani. Natürlich lässt sich das auch von anderen Autoren und Autorinnen sagen. Doch dieser freundliche, zugewandte Intellektuelle mit iranischen Wurzeln hat mit seinen Texten eine entscheidende Wendung in meinem Leben bewirkt: als Muslim half er mir, den christlichen Glauben für mich zu entdecken.

Kein Wunder also, dass ich mich auf ein Buch stürze, in dem Kermani Fragen nach Gott in den Mittelpunkt rückt. Noch dazu bei so einem einladenden Titel: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen*.

Lass uns über Gott reden

Seinem sterbenden Vater hatte Navid Kermani versprochen, der Tochter "den Islam zu lehren" – und so beginnt er also, ihr jeden Abend ein neu geschriebenes Kapitel vorzulesen und die Fragen der Zwölfjährigen tags darauf im nächsten Kapitel aufzugreifen. Ein Schelm, wer da nicht an Scheherazade aus 1001 Nacht denkt.

Kermani erzählt vielleicht nicht um sein Leben wie die kluge Scheherazade, doch er erzählt so persönlich, eindringlich und anschaulich, als ginge es genau darum: ein zentrales Geheimnis des Lebens zu bewahren und weiterzugeben. Und ist das nicht auch so? In immer neuen Anläufen umkreist er Gott. Er beginnt bei der Unendlichkeit, unternimmt Ausflüge in die Physik, landet bei Goethe, vergleicht immer wieder Christentum und Islam. Im Blick auf sein Zielpublikum mag man die Redseligkeit, die ihn ab und zu überkommt, entschuldigen.

Vor allem aber gelingt ihm das Unglaubliche, das man allen Gemeindepädagog*innen dieses Landes von ganzem Herzen wünscht: ganz ohne Glaubenssätze vorauszusetzen, gibt er Zeugnis ab von der lebensverändernden, befreienden, emanzipierenden Kraft der Religion – in diesem Fall seiner: des Islam.

Religion erfahren

Tatsächlich ist Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen eine überzeugende Einführung in den Islam, in Geschichte, Praxis und Glauben dieser faszinierenden Religion – und ein Weckruf, nach dem eigenen Glauben zu forschen. "Halte dich fest am Seil Gottes": diesen Rat des eigenen Vaters gibt der Autor nun an seine Tochter weiter. Denn Gott ist ebenso wirklich wie der Apfel und der Baum.

Für Kermani liegt ein Grundfehler der heutigen Zeit darin, "die Theologie allzu häufig schon für Religion zu halten". Eine Predigt ergibt noch keinen Gottesdienst, so der Autor: es bedarf einer religiösen Erfahrung, und die ist oft ganz einfach und schwierig zu gleich. Gott lässt sich überall entdecken, so ist er überzeugt: in der Natur, in der Sprache, in Geschichten, in der Liebe. Gott ist "das Leben selbst":

" Gott ist nichts, an was du bloß glaubst, sondern Gott ist etwas, das du erkennst, wenn du genau hinsiehst."

Navid Kermani: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott. Buch erschienen im Hanser Verlag. Hörbuch gesprochen von Navid Kermani und Eva Mattes.

Wenn Navid Kermani nach Gott fragt, dann fragt er nach den Quellen von Verbundenheit und Hingabe. Indem er das Buch für seine 12jährige Tochter schreibt, wendet er sich sprachlich an eine Generation, der sich die Gottesfrage meist nicht mehr ohne weiteres stellt. Um so wichtiger ist dieses Buch.

Allerdings findet sich hier auch seine Schwäche. Je nachdem, wie sehr man mit der Rahmenhandlung des täglich zum Einschlafen vorlesenden Vaters mitgeht, wirkt Kermanis Buch manchmal ein wenig bemüht. Ein Eindruck, der sich beim Hören des vom Autor gelesenen Hörbuches legt: Hört man Kermani zu, zeigt sich, dass das mündliche Erzählen für diese Form der Weitergabe von Erfahrungen die angemessenere Form ist. Nicht nur bekommt man einen sinnlichen Eindruck der arabischen Sprache und der Gebetspraxis im Islam – der keineswegs professionelle Vortrag von Navid Kermani bezeugt, wie persönlich die Rede von der Religion doch immer ist.

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Der Titel des Buches verdankt sich übrigens dem Platzanweiser in einer Moschee, in der Abu Said, ein berühmter islamische Mystiker, predigen wollte. Es kamen so viele Gläubige, dass kein Platz mehr blieb, und so rief der Platzanweiser:

"Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen."

Abu Said beendete daraufhin die Veranstaltung: "Alles, was ich sagen wollte und sämtliche Propheten gesagt haben, hat der Platzanweiser bereits gesagt."