Gelassenheit
Ihren ersten vierwöchigen buddhistischen Meditationskurs besuchte Sylvia Wetzel, wie sie schreibt, im Oktober 1977 in Nepal. Vor Beginn des Kurses kauft sie in einem Antiquariat in Nepal das Reclam-Heft Vom Wunder der Seele von Meister Eckhart. Während sie tagsüber buddhistische Vorträge hört und meditiert, entdeckt sie abends in den Schriften des deutschen Mystikers zahlreiche Parallelen zwischen christlicher Mystik und buddhistischen Lehren. Nun leiht sie sich für ihr neues Buch ein Wort, das Meister Eckhart um 1300 geprägt hat: Gelassenheit. Sie schreibe dieses Buch,
“als eine buddhistisch inspirierte Werbekampagne für liebevolle und mitfühlende Gelassenheit mit ihren vielen komplexen Bedingungen und Kontexten“.
Tatsächlich findet sich in diesem schmalen Büchlein ein sehr grundlegender Rundgang durch die buddhistische Psychologie. Man merkt den Texten der langjährigen Meditationslehrerin die Erfahrung an, Dinge auf den Punkt zu bringen, ruhig und genau zu formulieren. Hier hebt sich Sylvia Wetzels Buch wohltuend von anderen, ausschweifenden und oft vage bleibenden Veröffentlichungen ab. Auf nur knapp 100 Seiten untersucht sie aus buddhistischer Perspektiven die Grundlagen und Bedingungen von Gelassenheit und somit einen möglichen Weg zu Mut und Zuversicht inmitten von Krisen (so der Untertitel des Buches).

Im Vergleich zum Christentum, das seine Weisheit oft in Erzählungen vermittelt, ist das Denken im Buddhismus sehr viel systematischer. Das nutzt Sylvia Wetzel beim Aufbau ihres Buches. Sie erörtert die „Vier Heilenden Haltungen“, schaut sich die „Acht weltlichen Anliegen“ an, versammelt „drei Arten von Geduld“ usw. Es sind Konzepte, die Zugang bieten zu unserer komplexen Gefühlswelt, ohne dass man sich in Innerlichkeit und poetischer Blumigkeit verliert.
Tatsächlich sind buddhistische Konzepte schon länger auch in der westlichen Psychologie angekommen. Sylvia Wetzel bieten diese etablierten Konstrukte und Systeme ein Geländer, an dem sie sich durch das unübersichtliche Terrain bewegt. Ihre Frage ist dabei: Wie können wir konstruktive Gelassenheit und Gleichmut, Ausgeglichenheit und Zuversicht entwickeln - nicht zu verwechseln mit Gleichgültigkeit!
Eine Grundlage hierfür bieten aus Sicht Wetzels die vier heilenden Haltungen: Liebe, Mitgefühl, Freude und Gleichmut. Jede dieser Haltungen erörtert sie zunächst ausführlich, bevor sie zum nächsten Baustein kommt: dem Vertrauen.
“Drei Arten des Lernens führen zu drei Arten des Vertrauens: hören bzw. lesen, überprüfen, ausprobieren und nachdenken und schließlich meditieren. Sie führen zu Vertrauen in andere, in uns selbst und ins Große Ganze.“
Wer hier länger schon mitliest, weiß, dass ich glaube, dass all das, was wir in spirituellen Praktiken anderer Kulturen suchen, in unserer eigenen christlichen Tradition schon immer da und zu entdecken ist. Mit ihrer Bezugnahme zu Meister Eckhart, Paul Tillich oder Hannah Arendt macht dies auch Sylvia Wetzel bewusst. Ihr gelingt aber mit ihrem Büchlein, eine Brücke zu schlagen: gerade der systematische, mit Reihungen und Aufzählungen arbeitende Zugang des Buddhismus zur menschlichen Psyche bietet konkrete Betrachtungs-, Übungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, weshalb Sylvia Wetzel im zweiten Teil ihres Buches eine ganze Reihe von Übungen zu den einzelnen Aspekten von Gelassenheit anbietet. Ein lohnenswertes Unterfangen.