Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?

"Eigentlich, denke ich dann, hättest du es doch auch schon früher verdient gehabt: dass du dich um dich kümmerst. Dass du dir erlaubst, dich etwas besser zu fühlen."

Mit Thomas Melle, Die Welt im Rücken, bin ich vor einigen Jahren den Aufs und Abs des Lebens mit einer manisch-depressiven Erkrankung gefolgt; mit Isabell Bogdan konnte ich während ihres berührend-aufrüttelnden Romans Laufen einiges über den Blick von Außen auf die Depression erfahren (und auch einiges über mich); die wichtigste, die treffende Frage aber stellt nun der Journalist Till Raether: Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?

Till Raether: Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben? Rowohlt 2021

Stimmungsschwankungen sind das eine. Phasen des grundlegenden Zweifels was anderes. Motivationslosigkeit, Traurigkeit, gefühlte Leere: alles schon mal da gewesen. Wo liegen die Ursachen? (Wie) komme ich da wieder raus? Ist das jetzt eine Krankheit oder "nur" eine (Ver-) Stimmung? Eine Phase oder mein Leben? Bin ich das überhaupt? Ich kenne diese Fragen. Und ich kenne den nicht eindeutig zu bestimmenden Grenzstreifen zwischen "schlecht drauf" und wirklich krank. Wirklich krank?

"Niedergeschlagen oder depressiv: Das ist von außen und innen gar nicht so leicht zu unterscheiden, man kann ein ganzes Buch darüber schreiben, wenn auch ein kurzes."

Till Raether nun hat ein recht kurzes, sehr aufrichtiges Buch geschrieben, dem Jahrzehnte des Zweifels, der Müdigkeit, der Scham vorausgingen. Er versteht das Buch als Angebot, so sagt er, "sich darin wiederzufinden oder sich abzugrenzen, als Einladung, aus meinen Fehlern zu lernen, und wenn es geht: als Entlastung." Das gelingt vortrefflich. In manchem, in vielem finde ich mich wieder: in der Schwäche, in der Sehnsucht nach Rückzug, im Weiter-Funktionieren. Gleichzeitig aber bleibt Raether so persönlich und betont autobiographisch, dass auch deutlich wird: dies ist seine Geschichte, seine Krankheit, nicht meine. Die Antwort auf die titelgebende Frage nimmt einem niemand ab.

"Ich habe nie daran gedacht, mich umzubringen. Ich habe nur sehr oft daran gedacht, mich hinzulegen und nicht wieder aufzustehen. ... Mein Leben war nie in Gefahr. Dieses Leben war nur einfach kein besonders gutes."

Raether ordnet sich unter die sogenannten "hochfunktionalen Depressiven" ein. Die, die ihre Depression mit hohem Aufwand überspielen (und denen das auch gelingt), um fleißig und erfolgreich zu wirken. Um zu funktionieren.

Weil halt alles nicht so schlimm ist (aber auch nie wirklich gut), dauert es Jahre, bis er einen Therapeuten aufsucht. Die Verhaltenstheraphie hilft – zwischenzeitlich. Vor allem aber gibt sie ihm ein paar Instrumente an die Hand, um weiterhin mit Depression funktionieren zu können. Wieder dauert es Jahre, bis sich Raether in weitere (und medikamentöse) Behandlung gibt: als es plötzlich einfach nicht mehr weitergeht.

"Depression hat viel mit Schuldgefühlen zu tun: weil man es nicht hinkriegt, glücklich zu sein, weil man denen, die man liebt, das Leben schwer macht, weil man unzuverlässig und schwach ist."

Ausführlich schreibt er über die verschiedenen Stadien seiner Erkrankung und seiner Behandlung; er erfasst sehr genau all die Situationen, in denen er versucht, über die Runden zu kommen, sich zusammenzureißen, das irgendwie hinzubekommen. Und dann – sehr eindrücklich – im entscheidenden Moment oft genug gegen die Wand zu fahren. Zu flüchten. Zu fehlen. Zu scheitern. Sich zusammenzureißen und weiterzumachen ...

Er beschreibt die eigene Ratlosigkeit und die Erschöpfung seiner Familie; das schwelende Unglück und die Selbstüberforderung, daran etwas zu ändern. Er beschreibt, wie er irgendwie "klarkommt", wieviel Kraft es ihn kostet – und wie fern ein einfaches, glückliches Leben dennoch bleibt. Raether arbeitet zuverlässig und erfolgreich, aber auch hier immer gegen die eigene Überforderung und Erschöpfung an – es dauert nicht lang, und er gilt als launisch. Die Niedergeschlagenheit und die Angst mögen ihn isolieren; allein: er funktioniert.

"Ich bin depressiv, also bin ich kraftlos und erschöpft. Also fallen mir die einfachsten Dinge schwer. Also zweifele ich an mir als Mensch und an meinem Ort in der Welt. Und diese Zweifel werden gelindert, wenn ich Anerkennung bekomme, also mir bestätigt wird, dass ich in Ordnung bin. Aber um diese Anerkennung zu bekommen, muss ich mich, ohnehin geschwächt, noch mehr anstrengen, die Erschöpfung und die Depression werden noch tiefer. Die Linderung ist also nur möglich um den Preis einer Verschärfung der Symptome. So als wenn man eine juckende Hautstelle kratzt, sie dadurch, nach der unmittelbaren Erleichterung, aber noch mehr reizt."

Und er beschreibt den/die Wege zur Therapie, schreibt von Selbstüberwindung, Hilfesuche, Lichtlbicken, von Sucht und Idiotie. So eindringlich und dennoch humorvoll, dass ich mich etwas an Wolfgang Herrndorf erinnert fühle. Und der autobiographische Charakter von Bin ich schon depressiv... macht es einfach, das Buch als Geschichte eines Lebens, als Erzählung eines Betroffenen zu lesen, die nur so und so viel mit mit einem selbst zu tun hat. Rather wechselt zum Glück nie ins Ratgeberfach. Dennoch (oder gerade deswegen) gelingt dem schmalen Büchlein zweierlei: das Bewusstsein für die Volkskrankheit Depression zu schärfen und Mut zu machen: Alles lässt sich ändern. Absolute Leseempfehlung für jedermann und jederfrau.

"Tatsächlich half mir sehr, was ich in den zwei Jahren lernte. Vor allem, besser auf mich und meine eigenen Bedürfnisse zu achten. Von scheinbar einfachen Dingen wie mehr schlafen bis zu schwierigen wie: mich aus privaten und beruflichen Verbindung zu lösen, die mir nicht guttaten."