Sanddornzeit

Auf Reisen mit CEEYS und Hanns Cibulka

ONE of the most magical resorts and retreats of the former GDR: "our" small holiday island HIDDENSEE – east of Rügen in the Baltic Sea ... a place completely rejecting the usual concept of seaside glamour with shopping malls and nightlife districts. ... during GDR times, people coming to the island were not only longing for a glimpse of the often clear Western shore, but also used it as a starting point for attempted escapes, either equipped with air mattresses or simply swimming for their lives.

Das schreiben Sebastian und Daniel Selke (aka CEEYS) in den Liner Notes zu ihrem 2019 erschienenen Album Hiddensee. Mit Piano, Cello und Effektgeräten unternehmen sie eine Reise in die Erinnerung: Hiddensee als Urlaubsort "nicht von dieser Welt" entpuppt sich als sprödes, geheimnisvolles Refugium. Lutz Seiler hat die Insel mit dem dichten Roman Kruso vor einigen Jahren wieder auf der literarischen Weltkarte eingetragen (von der es ja nie wirklich verschwunden war), die Potsdamer Brüder Selke zeichnen die Umrisse der Insel nun mit musikalischen Mitteln nach.

Als ich mich im Februar 2012, mitten im kalten Winter, für eine Woche auf Hiddensee zurückzog (nicht um zu fliehen, wohl aber um Abstand zum zu voll gepackten Leben zu gewinnen), spazierte ich zwischen dem zugefrorenen Bodden und der von eisigem Wind unter Beschlag genommenen Westküste endlos über das Eiland. In den auf Improvisation beruhenden Skizzen der Selke-Brüder, den rhythmischen Piano-Texturen und den weiten Cello-Bögen, spiegelt sich die Magie dieser Insel, der ich mich seitdem auch nicht mehr entziehen mag: das schmale Stück Land inmitten der See, die Weite, die Kargheit, die Skizzenhaftigkeit, die Anmut, die spröde Schönheit.

Schon in den 1960er Jahren war Hanns Cibulka zu Gast auf der Insel; ein mir bis dahin unbekannter Autor, der in der ehemaligen DDR vor allem mit seinen Tagebüchern gelesen wurde und 2004 in Gotha starb. Nun hat der Matthes & Seitz Verlag in seiner Reihe Naturkunden ein schmales Bändchen mit dem Titel Sanddornzeit veröffentlicht, ergänzt durch ein Nachwort des ehemaligen Sinn und Form - Herausgebers Sebastian Kleinschmidt, der Cibulkas Hiddensee-Tagebuch für eines der schönsten Bücher über die Insel hält, wie er schreibt. Kleinschmidt:

Wo auch immer Hiddensee in den letzten hundert Jahren Gegenstand eines literarischen Buches war und durch die Sprachkraft des Autors überregionale Aufmerksamkeit auf sich zog, diente die legendäre Ostseeinsel nicht nur als naturromantische Kulisse für die Fabel und das Handeln der Figuren. Die Insel wurde gleichsam selber zur Person: als Landschaft, als Mythos der Sezession, Refugium des Rückzugs, Ort der Sehnsucht nach Stille und Sammlung, als Metapher der Erdverwundbarkeit und als Symbol dessen, was Schutz verdient in Zeiten von Umweltverschmutzung und heraufziehender Klimakrise.

Vieles davon taucht auch in den Zeilen Cibulkas auf, die er während seiner "Sanddornzeit zwischen Festland und Meer" von Juli bis Oktober eines nicht näher benannten Jahres führt. Auch für ihn ist die Insel ein Refugium, ein Ort der Vertiefung und der stillen Auseinandersetzung mit den "Alten": er liest Homer, Goethe, natürlich Hauptmann. Er sucht Erkenntnis – und Freiheit.

So liest man in diesem Buch, geschrieben in der zu DDR-Zeiten weitestmöglichen Entfernung zum realsozialistischen Festland, natürlich die Auseinandersetzung mit Politik, Kultur und Alltag in der DDR immer mit. Etwa wenn Cibulka zu Homer notiert:

Wer ohne Geist, nur mit dem Schwert, in dieses Leben eingreift, hat keine Chance zu bestehen.

Gerade auf dem kargen Eiland mit seiner rauhen Natürlichkeit findet Cibulka einen Weg zu diesem Geist: "In allen Dingen leuchtet hier der Himmel auf, windüberweht." Im Ton der Fischer, denen das Abstrakte, der "Kommandoton" fremd ist, in der Herrschaft der Dinge und im Rhythmus der Tage, der sich ungestört, ohne Einwirkung anderer, entfaltet:

Ich lebe in den Tag hinein, niemand kontrolliert meine Zeit, niemand verlangt, dass ich pünktlich zum Essen erscheine. Ich kann gehen und kommen, wie es mir beliebt, ich bin aufgehoben in des Wortes doppelter Bedeutung.

Statt politischer Auseinandersetzung und Tagesrealität die Vertiefung im Grundsätzlichen, die Anschauung noch des Kleinsten, die sinnliche Erfahrung in der unverbauten Natur – im Medium des Tagesbuches entfaltet Cibulka seinen Ort der Freiheit: was zu DDR-Zeiten als Kommentar zur Lage der Nation gelesen werden musste, atmet einen Hauch des Grundsätzlichen, der heute teilweise befremdet – vielleicht aber auch einfach mit seinem Hang zum Utopischen beeindruckt, verstört?

Zum Glück versucht sich der Autor immer wieder an fesselnden Natur- und Landschaftsbeschreibungen, an Gewitter-Erzählung, Nachtbild und daran, den stetig wechselnden Charakter des Meeres in Worte zu fassen. Worte, die auch heute noch einen Sog entwickeln, dem man sich kaum entzieht. Dankbar erfährt der Leser:

Der Grundton von Hiddensee ist monochrom, ein tiefes meergrünes Blau.

Hanns Cibulka: Sanddornzeit. Tagebuchblätter von Hiddensee. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt. Naturkunden No. 64. Herausgegeben von Judith Schalansky bei Matthes & Seitz Berlin, 2020.

CEEYS: Hiddensee. Neue Meister / Edel 2019. In einer limitierten Special Edition auch mit 12 Postkarten mit Stills aus einem Homevideo von Hiddensee aus dem Jahr 1986.